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„Um auf jemanden wütend zu sein, muss ich ein Gesicht sehen. Wenn einer aber eine Sturmhaube trägt, geht es ja gar nicht“.

Mit einer roten Markierung markiert trifft besonders hart

Als sich der August2020-Mitarbeiter mit Dmitri verabredete, bekam er zufällig mit, dass seine Rufnummer auf Dmitris Handy von seinen Freunden gespeichert wurde: Er selbst konnte das nicht mehr, so schlecht war es um seine Sehkraft bestellt. Im August erhielt Dmitri mehrere Fußtritte gegen den Kopf. Die Einsatzkräfte hatten dabei Kampfstiefel an. Seitdem ging es mit seiner Sehkraft schnell abwärts. Dmitris Geschichte ist erstaunlich: Wie schafft man es bloß nach 24 Stunden in einem wahren Horrorfilm keinem etwas nachzutragen?

Dmitri Mischakowski,Industriekletterer
Alter: 37 Jahre
Die Stadt: Minsk
Wann: 12.08.2020

Festnahme gegen 22:00 am Ausgang einer U-Bahnstation Misshandlungen in der Polizeibezirksverwaltung

Inhaftiert in: ca. 28 Stunden in der Moskowski-Polizeibezirksverwaltung, Okrestina-Gefängnis
Ärztlicher Befund: Traumatische Verletzungen an drei Zähnen, mehrfache Abschürfungen an den Handgelenken, Hämatom am rechten Oberschenkel, Sehnerv-Atrophie
Folgen: Fast vollständiger Verlust des Sehvermögens. Berufsunfähigkeit, ist auf Betreuung im Alltag angewiesen

Autor: Projektteam August2020

Foto: Projektteam August2020; Menschenrechtszentrum Visna

Dmitri kommt einem agil, fast schon stürmisch vor, er kann nicht lange stillhalten. Doch das täuscht: Er kann kaum noch etwas sehen. Um die Zahlen auf seinem Smartphone zu erkennen, muss er sich das Handy praktisch unter die Nase halten. Dmitri wird ständig von seinen Freunden betreut und überallhin begleitet.


— Ich weiß, wie viele Finger meine Hand hat. Die sehe ich aber nicht mehr wirklich. Ich hatte es schon mit Pillen und Kapseln zu behandeln versucht, doch man sagte mir: Das einzig Wirksame wären Stammzellen. Dafür müsste ich aber nach Deutschland. In Belarus gibt es diese Behandlung nicht. Und sie ist recht teuer: von 16 000 Euro aufwärts. Meine Sehkraft schwand ab Mitte September. Zuerst sah ich neblige Flecken, dann musste ich immer näher an den Fernseher ran. Jetzt sehe ich kaum noch etwas vor meiner Nase. Nur das periphere Sehen funktioniert noch etwas. 

Erschwerend kam hinzu, dass Dmitri nach einer vorherigen Verurteilung wegen einer Schlägerei unter Auflagen auf freiem Fuß war. Auch wenn sich eine Klinik gefunden hätte, die ihn behandeln könnte, durfte er das Land nicht verlassen. Einst trainierte er viel, musste auch einiges einstecken: Thaiboxen ist eine harte Sportart. Er hatte auch schon eine Hirnhautentzündung hinter sich. Doch bis August 2020 hatte er keine Beschwerden. Der 12. August wurde für ihn zum point of no return.  


Bei Erinnerungen an August 2020 kommen bei Dmitri auch die Erlebnisse von März 2017 hoch: Damals sah er auf YouTube, wie Menschen aus ihren Autos gezerrt und verprügelt wurden, wie junge Frauen an den Haaren gepackt über den Asphalt geschleift wurden. Es ging damals um einen inoffiziellen Feiertag: den Tag der Freiheit, der traditionell am 25. März begangen wird. Damals machte Dmitri ebenfalls bei den Straßenprotesten mit, um seine Empörung zu demonstrieren. Und er wurde auch damals von der Polizei verprügelt: Einmal bei der Festnahme und danach im Polizeibus. Auch damals gab es Schläge auf den Kopf. Dmitri blutete stark. Um den Polizeibus vor Schmutz zu schützen, warf man ihm damals einen Putzlappen hin. Trotz Platzwunden im Gesicht, Schwindel und Übelkeit musste er anschließend fünf Tage im Okrestina-Gefängnis ausharren. Diese Geschichte ist nun von den August-Ereignissen des Jahres 2020 kaum zu unterscheiden.

Sie hatten doch mit ihrem Eid Treue gegenüber dem Volke geschworen und dann verprügeln sie einen Menschen in Handfesseln

Dmitri betont, niemals Mitglied in irgendeiner Organisation, politischen Partei oder Bewegung gewesen zu sein. Wenn er bei Protesten mitgemacht hatte, ging es ihm immer um die Eigenverantwortung. So auch am 12. August 2020. Allerdings kam er nicht weiter als bis zum Ausgang einer U-Bahn-Station. Wahrscheinlich haben die OMON-Männer gerade jemanden verfolgt und Dmitri kam ihnen dabei in die Quere. 


— In unserem Stadtrandgebiet Kurasowschina gab es keine Proteste. Meine Freunde riefen aus der Nachbarschaft an: In Malinowka wurde gerade geschossen, Blendgranaten gingen hoch. Also, da war richtig was los und ich fuhr mit der U-Bahn hin. Am Ausgang habe ich irgendwie nicht aufgepasst: Ich kam gerade raus, stand alleine da und sah plötzlich die OMON-Männer auf mich zu rennen. Ich konnte zunächst flüchten doch dann kam mir aus einem Hofeingang eine weitere Gruppe von OMON entgegen. Und die schnappten mich dann. Mir wurden Hände mit Handfesseln fixiert, ich musste runter auf die Knie. Zunächst wollten die nur mein Handy-Passwort wissen. Ich war empört: Das ging die doch nichts an. Ich war nicht wegen Verdachts auf eine Straftat festgenommen, weshalb also dieser Eingriff in meine Privatsphäre? 


Im nächsten Moment war Dmitris neues Smartphone Müll und er selbst unterwegs zur Polizeibezirksverwaltung vom Moskowski-Bezirk. In der Aula, wo er hingebracht wurde, hielten sich bereits etwa 300 Festgenommene auf. Dmitri fiel auf, dass die Polizisten äußerst aggressiv drauf waren. Er wurde direkt in dieser Aula auf den Boden geworfen und vor all den anderen brutal verprügelt: Wahrscheinlich um den Festgenommenen Angst einzujagen, so Dmitris Vermutung. Mit gefesselten Händen auf dem Boden liegend war Dmitri den Faustschlägen, Fußtritten und Schlagstöcken ausgeliefert. Er verlor das Zeitgefühl: Dauerte es zwanzig Minuten? Anders als 2017 wurde er nicht bewusstlos. 

Seine Zähne wurden von Kampfstiefel zertrümmert, sein Körper war eine einzige Wunde, die Plastikfesseln schnitten tief in die Handgelenke ein.


— Sie brüllten, dass wir Belarus an Europa verkaufen würden. Na klar! Wer braucht uns schon in Europa? Es lässt sich doch auch in einem unabhängigen Staat prima leben. Ich wurde nie dafür bezahlt. Einzig und allein die Ehrenamtlichen halfen mir je, wenn überhaupt.  Ich brüllte zurück. Aus Wut. Aus Hilflosigkeit. Ich weiß nicht, ob das richtig war, die Polizisten wüst zu beschimpfen, die mich verprügelt hatten. Aber die haben doch mit ihrem Eid Treue gegenüber dem Volk geschworen und dann verprügeln sie einen Menschen in Handfesseln.


Dmitri hatte keine Angst. Schließlich hatte er bis dahin auch schon einiges erlebt. Er ging davon aus, dass er nun 15 Tage Arrest bekommen würde, nicht mehr. Er hat sich eher Sorgen um die jungen Männer gemacht: Die 18-19-Jährigen zitterten vor Angst. Dann wurde er in den Keller abgeführt. Alle anderen kamen in die Zellen und ihn als einen „Aufsässigen“ stecke man in Einzelhaft: An einen Stuhl gefesselt, der am Boden festgemacht war. 
 

In so einem Betonkasten, im Halbdunklen läuft die Zeit anders. Wie lange er dort verbracht hatte, wusste Dmitri nicht mehr. Doch er erinnerte sich gut an das Gesicht seines Peinigers: Ein diensthabender Offizier war als einziger unmaskiert. Er kam immer wieder rein und prügelte auf Dmitri mit dem Schlagstock ein, beschimpfte ihn. Dmitri erzählte darüber ganz ruhig. In seiner Stimme war keine Wut zu hören. 

Nicht alle befolgten die Befehle. Es gibt eben Polizisten und Abschaum. Ich kenne persönlich einige, die die Einsätze bei Protesten konsequent vermieden hatten

— Nicht alle befolgten die Befehle. Es gibt eben Polizisten und Abschaum. Ich kenne persönlich einige, die die Einsätze bei Protesten konsequent vermieden hatten. Um auf jemanden wütend zu sein, muss ich ein Gesicht sehen. Wenn einer aber eine Sturmhaube trägt, geht es doch gar nicht.  
Gegen Morgen wurde Dmitri in eine Zelle verlegt. Als es einen Schichtwechsel gab, wurde er auch endlich auf die Toilette geführt. Es gab auch Wasser aus der Wasserleitung. Gegen Mittag ging es dann zum Okrestina-Gefängnis.

— Die Mitarbeiter von Okrestina waren nicht so wild drauf. Als wir bereits im Gebäude drin waren, fragte ich nach der Toilette. Das ging. Nicht wie in der Bezirksverwaltung, wo es hieß, man soll damit bis zu seiner Entlassung warten. Wir bekamen auch Wasser und durften uns hinsetzen: Es viel uns schwer, zu stehen, alle waren schwer verprügelt. Die Wärter waren also nicht so grausam. Doch immer wieder kamen auch Typen – wahrscheinlich von der OMON – rein und schnauzten uns an. Die waren wohl zur Verstärkung nach Okrestina geschickt.


Nach langer Zeit des Wartens im Sitzen an der Wand, ging es in den Gefängnishof für Spaziergänge: Auf der Fläche vom 10 x 10 Metern waren etwa 50 Männer. Es war kalt draußen auf dem kahlem Betonboden: Sein T-Shirt und seinen Hoodie hatte Dmitri nicht mehr dabei: Seinen Hoodie gab er einem andren Mann, und das T-Shirt ging wohl noch in der Bezirksverwaltungsaula verloren. Gegen Abend wurden die Männer in Zellen verlegt: Statt fünf Personen 30 bis 40 pro Zelle.


Dort waren sie aber nicht allzu lange. In der Nacht vom 13. auf den 14. August fuhr bei Okrestina der Stellvertretende Innenminister Barsukow vor und gab dem Druck der Öffentlichkeit nach: Er versprach alle freizulassen. Bereits um zwei Uhr morgens war Dmitri frei. So kam es erst gar nicht zu einem Gerichtsurteil. Auch hinterher wurde er nicht mehr vorgeladen. 

—  Die Schnürsenkel in meinen Turnschuhen wurden mit einem Messer zerschnitten. Ich machte mir Sorgen, wie ich es wohl damit nach Hause schaffen würde. Ich kam raus und sah eine Menschenmenge. Ich bekam Gänsehaut. Sie sagten, ich sei ein Held. Das gefiel mir. 2017 habe ich so etwas nicht erlebt. Da habe ich auch Mischa kennengelernt: Er brachte mich gleich in dieser Nacht zur Stelle, an der Taraikowski ermordet wurde. Dort war alles voll von Blumen. Danach brachte er mich nach Hause.

Ich kam raus und sah eine Menschenmenge. Ich bekam Gänsehaut. Sie sagte, ich sei ein Held. Das gefiel mir. 2017 habe ich so etwas nicht erlebt

Gleich nach seiner Freilassung erstatte Dmitri eine Anzeige beim Ermittlungskomitee wegen polizeilicher Übergriffe. Er bekam jedoch nicht einmal einen Termin beim ermittelnden Beamten. 


— Ich erhielt gar keine Nachricht. Niemand wollte die Verantwortung übernehmen. Genau wie auch für den Tod von Taraikowski oder Bondarenko: Die Opfer wurden als Hooligans, Drogensüchtige und Schmarotzer verunglimpft.


Seit April 2021 gilt Dmitri offiziell als sehbehindert. Bis August 2020 war er als Industriekletterer und im Tiefbau tätig. Nun kann er seinen Beruf nicht mehr ausüben und hofft auf die Wiederherstellung des Sehvermögens. Bis dahin sieht er einen Auweg in der Beschäftigung bei einer Einrichtung „Swetopribor“, die Arbeit für Blinde und Sehbehinderte anbietet: Dmitri will nicht ohne Arbeit zu Hause herumsitzen.
 


Während Dmitris Geschichte für das Projekt August2020 noch dokumentiert wurde, kam es zu einer weiteren Verhaftung: Er wurde auf dem Rückweg nach Hause in Begleitung eines Betreuers festgenommen. Offizielle Begründung: Widerstand gegen die Polizei. Das war am 26. April, dem Jahrestag von Tschernobyl. Dmitri bekam dafür eine Geldstrafe von 3 Basissätzen. Beim Verhör wurden jedoch Fragen nach Menschrechtszentrum Viasna gestellt und zu den Personen, die ihm nach August 2020 ehrenamtlich geholfen hatten, was nichts mit dem offiziellen Verhaftungsgrund zu tun hatte. Das Schlimmste dabei: Gegen Dmitri wurde ein Strafverfahren nach dem Artikel 415 des Strafgesetzbuches eingeleitet: Seine früheren Verstöße gegen Auflagen wurden ihm zum Verhängnis. Im Falle der Verurteilung kann er bis zu 3 Jahren Haft bekommen, was katastrophale Folgen für sein Sehvermögen haben könnte. 
P.S. Dmitri erstattete eine Anzeige beim Ermittlungskomitee wegen polizeilicher Übergriffe. Er erhielt keine offizielle Antwort darauf.

*Wir danken dem Menschenrechtszentrum Visna für seine Unterstützung. 

Wenn Sie während der friedlichen Protesten misshandelt worden sind und bereit sind, Ihre Geschichte uns zu erzählen, schreiben Sie uns auf die Email: avgust2020belarus@gmail.com mit dem Betreff „Geschichte“. Wir werden Sie kontaktieren. Danke!

Dmitri Mischakowski,Industriekletterer
Alter: 37 Jahre
Die Stadt: Minsk
Wann: 12.08.2020

Festnahme gegen 22:00 am Ausgang einer U-Bahnstation Misshandlungen in der Polizeibezirksverwaltung

Inhaftiert in: ca. 28 Stunden in der Moskowski-Polizeibezirksverwaltung, Okrestina-Gefängnis
Ärztlicher Befund: Traumatische Verletzungen an drei Zähnen, mehrfache Abschürfungen an den Handgelenken, Hämatom am rechten Oberschenkel, Sehnerv-Atrophie
Folgen: Fast vollständiger Verlust des Sehvermögens. Berufsunfähigkeit, ist auf Betreuung im Alltag angewiesen