"Nach dem, was geschehen ist, müssten die freien Belarusen die leidenschaftlichsten Kämpfer für Gleichberechtigung werden"
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Die Aufnahmen von einer Frauendemonstration, bei der drei Sicherheitskräfte eine Frau in einem weiß-roten Kleid mit Hasen in ein Polizeiauto zerren, verbreiteten sich im ganzen Internet. Es handelte sich um Sascha Guschtscha. Sie berichtete, was ihr damals zugestoßen ist, außerdem von der absurden Gerichtsverhandlung und davon, wie man mit seinen Ängsten und Enttäuschungen umgehen muss. Außerdem erzählte sie, warum sie ungewöhnliche Trachten und die japanische Harajuku-Mode mag und das Wort „Toleranz“ dagegen nicht. Das Wichtigste aber, warum sie bis zum August 2020 die Belarusen für nicht empathiefähig hielt und das Land verlassen wollte – und sich danach entschlossen hat, in Belarus zu bleiben.
Festnahme bei einer Frauendemonstration in Minsk
Als Sascha bei der Frauendemonstration festgenommen wurde, tauchten in den Medien Meldungen auf, dass eine Frau festgenommen worden sei, die einmal von Alexander Lukaschenka zu einer Audienz empfangen worden sei.
– „Und dann ist etwas nicht richtig gelaufen“, scherzt Sascha, die ein ausgezeichnetes Gefühl für Humor hat und eine aktive zivilgesellschaftliche Position bezieht.
Seinerzeit haben die Medien viel über Sascha Guschtscha berichtet. Als sie elf Monate alt war, kam es in einem Privathaus im Minsker Bezirk Loschica, wo ihre Familie wohnte, infolge eines Kurzschlusses zu einem heftigen Brand. Ein brennender Balken fiel direkt auf den Kinderwagen. Die Mutter stürzte hinzu, um die Tochter zu retten, bekam aber einen Infarkt und verlor das Bewusstsein. Ein Nachbar rettete das Kind aus den Flammen.
Die Ärzte gaben ihr keine Chancen auf ein normales Leben
Das Mädchen hatte Verbrennungen vierten Grades, sie hatte ihre Finger verloren, Kopf und Gesicht waren bis auf die Knochen verbrannt. Sofort nach dem Unglück wurde Sascha achtmal operiert, sie bekam zwei Gehirn-Trepanationen. Insgesamt kam es zu 39 Operationen, das Gesicht musste komplett wiederhergestellt werden, aus einem Rippenteil wurde die Nase gebildet und mehrere Male umgeformt. Die Ärzte sahen für sie keine Chance für ein normales Leben, aber die Eltern kämpften verzweifelt um ihr Kind. Sie klapperten die Krankenhäuser der Sowjetunion ab, aber bald fehlte es an der entsprechenden Erfahrung, bald an der erforderlichen Ausstattung.
Saschas Mutter gab nicht auf, sie schrieb an Zeitungen, dadurch gelang es ihr, Ärzte im Ausland ausfindig zu machen. Die Eltern sammelten Geld für die Behandlung in den USA. Mehrere Jahre lebte das Mädchen praktisch in Krankenhäusern. Als Sascha heranwuchs, stiftete der Russische Kinderfonds zu ihrer Ehre den internationalen Preis „Verneigung“ für Kinder und Jugendliche. Das Mädchen war die erste Preisträgerin.
Sascha erinnert sich, dass sie in Moskau dreitausend Dollar für die Behandlung bekamen, sie waren damals sehr auf Geld angewiesen. Nach dieser Reise wurde Sascha in Minsk zu einer Audienz mit Alexander Lukaschenka eingeladen. Sie schenkte ihm ein Bild, das sie selbst gezeichnet hatte, und sie selbst bekam ein „wertvolles Geschenk“ – ein musikalisches Zentrum.
Obwohl man ihr eine Zukunft ohne Perspektive vorausgesagt hatte, entschied sich Sascha, ihr Leben maximal auszuschöpfen. Sie hat viele Hobbies: Sie hat nähen gelernt, häkeln, sticken, zeichnen, tanzen (irisch, schottisch, alte Tänze, Hip-Hop), Skifahren, plastische Masken, Body-art, sie befasste sich mit Rollenspielen und Cosplay.
Sie hat ein Studium an der Minsker linguistischen Universität abgeschlossen und eine Stelle im IT-Bereich gefunden. Ihr Leben kann als erfolgreich betrachtet werden. Aber sie räumt ein, dass sie ihre Landsleute bis zum August 2020 nicht als gutherzig und empathisch empfand, sondern eher als gleichgültig. Sie träumte davon, Belarus zu verlassen. Sie war in mehreren Ländern gewesen und hatte eine normale Einstellung zu Behinderten gesehen, die nicht in ihren Wohnungen isoliert sind, sondern ein normales Leben führen können.
Bis zum Sommer 2020 war Sascha wie die meisten Belarusen unpolitisch. Aber am 9. August sah sie mit eigenen Augen, wie Blend- und Lärmgranaten in die Menge flogen, wie friedliche Menschen mit Gummigeschossen attackiert wurden. Danach änderte sich etwas in ihrem Inneren. Sie begriff, dass sie hierbleiben musste.
- Ja, vor einigen Jahren hatte es auch schon Versuche gegeben, auf die Straße zu gehen, sich zusammenzuschließen, aber damals gab es noch nicht so ein Instrumentarium wie heute – kein Internet, keine Möglichkeit, schnell Informationen zu bekommen und weiterzugeben. Und im letzten Jahr haben wir zum ersten Mal gesehen, wie viele wir sind!
Ja, Jahre davor hatte es Versuche gegeben, auf die Straße zu gehen, aber damals gab es kein Internet, keine Möglichkeit, schnell Informationen zu bekommen und weiterzugeben
Sascha beteiligte sich an Kundgebungen, sonntags, an Frauen-Protesten, Aktionen von Behinderten, wo sich ihre Landsleute zusammenfanden, nicht um irgendwelche Vergünstigungen zu erreichen, sondern um auf sich – als Staatsbürger - aufmerksam zu machen. Im Herbst berichteten die Medien erneut über Sascha. Am 19. September wurde sie auf einer Frauen-Demonstration festgenommen.
- An diesem Tag wollte ich mich mit einer Freundin treffen, kam aber etwas zu spät, weil ich mich mal wieder schön anziehen wollte. Ich habe eine Vorliebe für die japanische Straßenmode, und wenn man sich so anziehen will, dauert das ziemlich lang. Wir sammelten uns neben dem Komarov-Markt, eine kleine Kolonne war aber schon losgegangen. Auf dem Weg zur Kolonne trafen wir Nina Baganskaja, wir begrüßten uns, gingen einige Zeit nebeneinander und schlossen uns dann dem Zug an. Ich hatte eine extra für mich genähte Fahne/ /Ich habe mir extra eine Fahne nähen lassen – mit Schlaufen an den Rändern der schmalen Seiten, die wickle ich mir um die Hände, weil ich die Ecken nicht einfach greifen kann.
Auf dem Weg begrüßten uns Biker, Leute winkten aus den Fenstern, Autofahrer hupten uns zu, man spürte die Solidarität. Als wir auf die Surganovstraße abbogen, fuhren Kleinbusse und Polizeiautos an uns vorbei, und die Menge wurde unruhig.
Wir stoppten neben dem Handelszentrum „Eisberg“. Alles passierte in wenigen Sekunden. Auf der Straße bremsten einige Kleinbusse und Polizeifahrzeuge, eine Menge vermummter Personen sprang heraus, in schwarzer und olivgrüner Uniform.
Man drängte uns schnell an die Wand des Zentrums und versperrte uns den Rückweg, nur einige jungen Frauen schafften es, die Sperre zu durchbrechen. Wir (etwa 12-15 Personen) versteckten uns auf der Sommerterrasse der Bar in einer kleinen Sackgasse und hielten uns aneinander fest. Aber man lockte uns heraus. Männer in olivgrüner Uniform erklärten uns, dass sie uns nach Hause gehen ließen, dass sie heute ihr Festnahme-Soll erfüllt hätten. Einige Frauen zogen die anderen nach – gehen wir, sie lassen uns gehen. Ein paar von uns versuchten hart zu bleiben – „Man darf ihnen nicht glauben, geht nicht raus“. Aber sie waren in der Minderzahl. Wir wurden nach draußen gezerrt, umzingelt und einzeln herausgezogen.
Außer den Frauen war in einem der „Gläser“ auch ein Mann. Er ging einfach die Straße entlang. Sie packten ihn, und es stellte sich heraus, dass er ein Ausländer war, offenbar ein Italiener
- Ich erinnere mich an einen Mann in Uniform, er hatte braune Augen mit langen Wimpern. Ich dachte, dass dieser junge Mann im normalen Leben vielleicht sympathisch und einnehmend ist. Aber als er mir gegenüberstand, eine Handbreit entfernt, war seinem Blick anzusehen, dass wir in seinen Augen keine Menschen sind, sondern Objekte, Gegenstände, die man von der Straße entfernen muss.
Und als der Befehl zur Festnahme kam, wurde meine Freundin als erste gepackt und auf den Kopf geschlagen. Ihr wurde schlecht. Man zerrte sie weg, und ich sah, wie sie schwankte. Als sie mich packten, hielt ich mich instinktiv fest und trat ein paarmal auf den braunäugigen jungen Mann ein. Und er versetzte mir einige Fußtritte, auf die linke Wade. Es gab eine breite lange Wunde, ich dachte, das heilt schnell, und rechnete nicht damit, dass eine Narbe bleiben würde.
Danach war es wie im Kino, in Zeitlupe. Ich sah, wie einer zarten älteren Frau schlecht wurde, sie sank zu Boden. Auf der einen Seite gab es ein Gedränge der in Panik geratenen Frauen, auf der anderen Seite standen die olivgrün Uniformierten. Ich malte mir aus, was mit ihr in so einem Massengedränge passiert. Ich erinnere mich daran, wie ich noch heftiger um mich schlug und schrie, dass da jemandem schlecht ist, man sollte aufpassen, sie sei zu Boden gefallen. In diesem Augenblick stürzten zwei, dann noch ein dritter zu mir – im Internet gibt es ein Foto und ein Video, wie sie mich zu dritt unter den Armen packen.
Ich hatte einen Adrenalin-Anstieg und wurde wahnsinnig wütend. Anfangs griffen sie mir unter die Arme und ich lief selbst, aber dann schrie ich sie an: „Tun Sie was für Ihr Geld“ und ließ mich fallen. Sie trugen mich fort, und einer von ihnen sagte mir: „Du arbeitest doch für Deine Bezahlung!“
In diesem Moment fand ich das komisch, denn im Ernst daran zu glauben, dass wir das tun, weil uns jemand dafür bezahlt, uns dafür Geld gibt, das ist einfach, naja….. (seufzt).
Die jungen Frauen baten um Auskunft, weshalb sie festgenommen würden, und verlangten, ihnen die Rechtsgrundlage mitzuteilen. Die Begleitmannschaft fauchte, sie würden nur ihre Arbeit tun
Man trug mich zum Polizeiwagen und stieß mich hinein. In den Käfig im hinteren Abschnitt pressten sie 8-9 Personen zusammen. Manche Frauen saßen auf einer winzigen Bank, andere auf ihrem Schoß. Es war sehr eng, ich stand während der ganzen Fahrt und stützte mich mit den Ellenbogen an die eine Wand und mit dem Rücken und den Beinen an die gegenüberliegende. In diesem Polizeiwagen saß auch Nina Baginskaja (Die 73-jährige Nina Baginskaja ist eine Symbolfigur der Protestbewegung in Belarus. Sie nimmt seit über 20 Jahren an Protestkundgebungen teil – Anm. Avgust2020), aber sie wurde vor dem Polizeirevier herausgelassen.
Außer den Frauen befand sich in einem der „Gläser“ auch ein Mann. Das war einfach ein Passant, man hatte ihn gepackt und ihm die Arme verdreht. Es war ein Ausländer, offenbar ein Italiener. Dann überlegten sie, was sie mit ihm machen sollten. Mir gelang es, meiner Mutter über Viber mitzuteilen, dass ich festgenommen worden war. Meiner Freundin, die sie geschlagen hatten, wurde es immer schlechter. Unser Käfig befand sich neben dem Motor, die Wand wurde heißt, es war stickig, man konnte kaum atmen. Wir riefen um Hilfe und baten, meine Freundin herauszulassen. Man setzte sie dann auf die Bank davor, neben ein offenes Fenster.
Die Frauen forderten eine Erklärung für die Festnahme, warum so mit ihnen verfahren wurde, sie forderten eine Aufklärung über ihre Rechte. Die Polizisten fauchten, sie würden nur ihre Arbeit tun, und im Polizeirevier würde man uns alles erklären.
Im Polizeirevier Sovetskij stellte man uns (etwa 40 Frauen) im Korridor auf, mit dem Gesicht zur Wand. Wer was dabei hatte, konnte Wasser trinken und etwas essen. Man schrieb unsere Namen auf, kontrollierte unsere Sachen, eine Mitarbeiterin notierte, dass ich behindert bin (1. Grad). Meiner Freundin wurde immer schlechter, schließlich kam ein Krankenwagen und brachte sie weg.
Im Polizeirevier wurden wir von drei Personen bewacht. Einer von ihnen war besonders aggressiv. Er schrie uns an, verhielt sich ganz wie ein „bad cop“. Alle wurden still. Nach einiger Zeit drehte ich mich zur Seite, lehnte mich mit der Schulter an die Wand, und später setzte ich mich auf den kalten Boden. Mit der Zeit setzten sich alle entlang der Wand. Man brachte uns zur Toilette, und wir konnten uns da auch Wasser holen. Allen nahm man die Fingerabdrücke ab, nur bei mir ging das nicht (lacht).
Wir haben die Bewacher zum Reden gebracht, und aus unserem Aufenthalt wurden Amateur-Debatten. Allen war klar, dass das keinen Sinn hatte und zwecklos war, dass wir einander nicht überzeugen würden, aber es machte Spaß, einige Momente zu beobachten. Wenn man ihnen Tatsachen mitteilt und sie einfach das Thema wechseln, weil sie der objektiven Realität nichts entgegenhalten können. Oder sie sagen einfach „Kein Kommentar“. Sie haben eine gründliche Gehirnwäsche hinter sich. Sogar der aggressive Wachmann aus der Begleitmannschaft ließ sich in die Debatten darüber hineinziehen, was im Lande vorgeht. Er sagte, dass seine gesamte Familie, alle im Dorf für Lukaschenka gestimmt hätten. Der Westen würde die Proteste finanzieren. Ich bat ihn, mir die Telefonnummer von den Leuten zu geben, von denen das Geld kommt, weil uns aus irgendeinem Grunde niemand was bezahlt. Er ärgerte sich, weil er darauf nicht antworten wollte, ihm war es schon unangenehm, überhaupt mit mir zu sprechen. Und es war lachhaft, dass ein Mensch, der die Macht über mich hat, mir Vorwürfe macht und beleidigt ist.
Ich machte mir große Sorgen um meine Mama, ihr Herz und ihre Nerven. Aber sie lachte: Ich habe deine Festnahme schon gesehen, wie sie dich zu dritt wegtrugen. Du bist die Heldin des Tages!
Es kam das alte Gespräch darüber in Gang, was uns nicht passt, was wir denn im Land ändern wollen. Ich sprach von den Rentnern, die von ihrer Rente nicht leben und sich nicht ernähren können und die gezwungen sind, sich irgendwie durchzuschlagen. Das ist eines der Symptome der schlechten Verteilung der Finanzressourcen, der Leitung von Wirtschaft und Staat. Er antwortete, auch andere Personen hätten niedrige Renten und Gehälter, und niemand würde sich beklagen. Ich sagte, wir wollten Änderungen, damit alle ein menschenwürdiges Leben führen könnten, und nicht nur wir, die IT-Spezialisten. Er darauf: „Und was schlagen Sie vor? Woher sollen wir das Geld nehmen, aus der Luft, wir haben doch kein beliebig dehnbares Budget?“ Ich sagte, dass ich keine Antworten auf alle Fragen haben müsste, ich bin weder Politikerin und noch Ökonomin. Ich möchte, dass mein gesetzliches Recht respektiert wird, qualifizierte Fachleute in die leitenden staatlichen Organe zu wählen. Und er schmollte und verzog sein Gesicht und suchte meine Argumente zu diskreditieren: „Da haben Sie schlaue Sachen im Internet gelesen und quatschen sie hier nach.“
So stichelten wir gegeneinander, weil es ziemlich langweilig ist, fünf Stunden lang auf einem schmutzigen kalten Boden im Korridor zu sitzen. Etwa um 10 Uhr abends ließen sie eine minderjährige junge Frau frei und danach alle, die kleine Kinder hatten. Ich kam als dritte oder vierte frei, ein Mann in Zivil begleitete mich zum Ausgang und sagte, dass bei der ersten Festnahme noch kein Protokoll erstellt wird, aber „wenn Sie ein zweites Mal hierherkommen, dann kommen Sie nicht so leicht davon“.
Ich rief sofort Mama an, ich hatte Angst, dass es ihr schlecht gehen könnte und machte mir große Sorgen wegen ihres Herzens und ihrer Nerven. Ich rief über Viber an, ich zitterte, und Mama lachte: Ich habe deine Festnahme schon gesehen, wie sie dich zu dritt wegtragen. Heldin des Tages! Dann sagte sie, dass sie mich angerufen und sehr bedauert habe, dass ich nicht antworten konnte, dass sie mir sehr gerne hätte sagen wollen, dass sie unendlich stolz ist auf mich, und ich heulte los.
Meine Festnahme war Mitte September erfolgt, und einen Monat später erhielt ich eine SMS: „Sie werden zum Gericht im Sovetskij-Bezirk vorgeladen als Person, gegen die ein Ordnungsstrafverfahren nach Artikel 23.34/1 läuft“. Ich vermute, dass die Protokolle nachträglich erstellt wurden, im Polizeirevier hatte ich keinerlei Papiere zu Gesicht bekommen, man hat mir nichts gezeigt und nichts zur Unterschrift vorgelegt. Und sie haben sich bei dem Protokoll reichlich ungeschickt angestellt.
In diesem Moment lachten alle im Saal so, dass die Richterin meine Kollegin aus dem Saal wies – wegen Respektlosigkeit gegenüber dem Gericht
Die Verhandlung verlief äußerst seltsam. Ich habe zwei Momente im Gedächtnis behalten. Per Skype wurde ein maskierter Zeuge zugeschaltet – die Kommunikation mit ihm wurde für mich zu einer eigenen überraschenden Erfahrung. Den Saal bekam er nicht zu sehen, das Notebook stand mit dem Bildschirm zur Richterin. Der Zeuge war, wie sich herausstellte, ein Mitarbeiter der Polizei, ein Agent, der an diesem Tag die Surganova-Straße entlanggelaufen und den Demonstrationszug gefilmt hatte (danach hat irgendeine Sonderabteilung das Video bearbeitet und anhand der ausgewählten Personenaufnahmen die Identifizierung vorgenommen). Er behauptete, dass „sie selbst gegangen ist, Parolen gerufen hat usw.“
Der Anwalt fragte:
Sie können exakt bezeugen, dass Sie diese Bürgerin an diesem Tag mit eigenen Augen gesehen haben?
Der Zeuge zögert:
Ich habe sie auf dem Video gesehen, das an diesem Tag aufgenommen wurde.
Der Anwalt fuhr fort:
Zeuge, würden Sie sagen, dass es am Aussehen der Bürgerin etwas Ungewöhnliches gab, hinsichtlich der Kleidung, oder hatte sie irgendwas in der Hand?
Antwort:
Nein, das würde ich nicht sagen. Sie sah gewöhnlich aus, war gewöhnlich gekleidet.
Im Saal kam Gekicher auf. Gerade an diesem Tag trug ich ein weiß-rotes Kleid mit bauschigen Bügeln, mit Schmuck und roten Binden auf dem Kopf. Das ist mein geliebter japanischer Stil der Straßenmode, ich bestelle die Sachen im Ausland und stelle verschiedene Kombinationen zusammen. Es gibt nicht viele solcher Kleider in Belarus.
Der Anwalt:
Würden Sie sagen, dass meine Mandantin physische Besonderheiten hat, irgendwelche besonderen Merkmale?
Zeuge:
Nein, sie sieht ganz gewöhnlich aus.
In diesem Moment lachten alle im Saal so, dass die Richterin meine Kollegin aus dem Saal verwies – wegen Missachtung des Gerichts.
Mein Anwalt wollte erreichen, dass mein Verfahren überarbeitet wird, aber die Richterin wollte das absolut nicht. Sie verhielt sich ausgesprochen feindselig, verkündete dann eine Pause und verließ den Saal. Nach der Pause zog sie plötzlich ein Smartphone heraus, öffnete einen Artikel auf TUT.BY über die auf der Kundgebung festgenommenen Frauen und las den Ausschnitt vor, der mich betraf. Dann fragte Sie:
Haben Sie dazu etwas zu sagen?
Ich antwortete:
Im Internet kann man alles Mögliche schreiben.
Sie winkte mich und den Anwalt heran und zeigte ein Foto auf dem Telefon, wie ich von den dreien weggebracht werde: Hier ist das Foto von Ihrer Festnahme. Können Sie dazu etwas sagen?
Ich sah sie mit großen Augen an:
Nun ja, ich wurde an dem Tag festgenommen, das ist ja auch der Grund, warum ich hier bin. Was soll ich sonst noch dazu sagen?
Wie mir der Anwalt später erklärte, hat sie damit grob gegen die Gerichtsordnung verstoßen. Ein Richter hat nicht das Recht während der Anhörung das Telefon hervorzuziehen, im Internet zu googeln und vor den Augen des überraschten Publikums etwas zur Akte zu nehmen und sich damit Partei für eine der beteiligten Seiten zu beziehen. Das war so krass, dass der Anwalt und ich schon darauf eingestellt waren, dass mich jetzt ein Polizeiauto direkt aus dem Gericht aufgrund irgendeines plötzlichen Strafverfahrens abtransportiert.
Nach der zweiten Pause kam die Richterin zurück und ratterte das Urteil herunter, ohne den Blick vom Papier abzuwenden: Eine Geldstrafe von 704 Rubeln. Sie klappte den Aktendeckel zu und ging. Der Anwalt reichte einen Antrag auf Akteneinsicht ein, um das Verfahren anzufechten, und da war der Artikel aus TUT.BY angeführt, als wäre er schon von Anfang an bei der Akte gewesen.
Zu den meisten Kundgebungen ging Sascha in heller und besonderer Kleidung. – Als ich 30 war, habe ich für mich den japanischen Stil der Straßenmode entdeckt, das war für mich ein großer Schritt auf dem Weg, mich selbst zu akzeptieren, nachdem ich viele Jahre wegen meines Aussehens unter Komplexen gelitten hatte. Für mich war es sehr schmerzlich, dass die Kriterien für das, was die Gesellschaft bei Menschen als attraktiv ansieht, nicht die besonderen Merkmale im Aussehen berücksichtigten, die mit Defekten und körperlichen Einschränkungen zu tun haben.
Ich hatte mich schon lange für schicke Kleidung interessiert, war aber lange Zeit in der Einstellung befangen, dass nur attraktivere Personen sich so schön anziehen können, und dass ich, grob ausgedrückt, mit meiner Visage dafür ungeeignet bin. Selbst wenn ich das schönste Kleid anzöge und Kopfschmuck dazu, wird trotzdem mein Gesicht zu sehen sein und den Gesamteindruck kaputt machen. Viele Jahre nährten sich meine Komplexe und Vorbehalte gegen mein eigenes Aussehen aus der Gewohnheit, mich mit den Augen anderer Menschen zu sehen. Vieles von meinem Leben habe ich dadurch kaputt gemacht, dass ich mir vorgestellt habe, wie ich für andere aussehe.
Cosplay ist eine Form der Selbstartikulation, wo man selbst zu einem Kunstwerk wird. Ich gehe auf in dem Kostüm und bekomme eine kurze leichte Atempause
- Ich begann solche Erscheinungen wie Altersdiskriminierung (Ageismus), Lookismus und andere Formen von Diskriminierung in der Gesellschaft zu untersuchen, und erkannte, wie viele solcher Verhaltensweisen man uns eingeimpft hat. Wenn man sie gründlich aus seinem Kopf herausdrängt und analysiert, wie sie funktionieren, dann begreift man allmählich die „Schönheitsindustrie“ – diese unmenschliche und herzlose Geldschneiderei für Kosmetik, Kosmetologie, plastische Chirurgie usw. Und irgendwann verliert das dann seine Wirkung. Jetzt verstehe ich, dass es immer Menschen geben wird, die nach bestimmten Kriterien als schön gelten werden, in einer Weise, wie ich es nie sein werde. Aber das stört mich nicht mehr so wie früher.
Eins meiner langjährigen Hobbys ist Cosplay. Ich reproduziere gerne Kostüme und entwerfe auch selbst welche. Ich suche mir gerne Muster aus, in denen man sich verkleiden kann, ob nun in eine andere Person oder ein magisches Wesen, wo mein Gesicht und meine Hände nicht zu sehen sind. Besonders stolz bin ich auf mein „Edward-Scissorhands-Kostüm“, da verhüllt die Maske die Besonderheiten ihres Äußeren, man trägt Herrenhandschuhe mit Scheren (Attrappen - die habe ich selbst gemacht!). Und dann komme ich in die Garderobe, nehme diese Hände ab, um einen Schluck Wasser aus einer Flasche zu trinken, und schon werde ich komisch angesehen.
Wissen Sie, es gibt so ein Moment – ich zeichne ja seit meiner Kindheit und habe seinerzeit häufig an Ausstellungen teilgenommen. Und ich habe immer empfunden, dass die Menschen sich ganz anders dazu verhalten, wenn sie wissen, dass etwas von einem Behinderten gezeichnet wurde. Und sie sind nicht deshalb begeistert, weil du etwas Tolles gemacht hast, sondern weil sie ihre Ansprüche reduzieren. Und das ist sehr kränkend. Cosplay ist für mich eine interessente Form der Selbstartikulation, wo man selbst zum Kunstwerk wird, und das Kostüm, dein Design – das ist dein Werk. Ich gehe als Mensch auf im Kostüm, ich verstecke mich und kann kurz leicht aufatmen.
Ich bin eben so, ich habe eine Behinderung, bin physisch eingeschränkt, aber ich zieh mich trotzdem schön an und genieße das
Die Vorliebe für Straßenmode, mit farbenfrohen Trachten, ist wie die Kehrseite einer Medaille, wo ich grundsätzlich mein Gesicht nicht verberge, die Besonderheiten meines Äußeren nicht verstecke und mir keine Mühe gebe, zu gefallen. Eher umgekehrt, ich stelle das gerade heraus, dass ich eben so bin, behindert, mit physischen Verletzungen, aber ich ziehe mich trotzdem schön an und genieße das. Und ich will ein solches Bild vermitteln: Man kann lernen, glücklich zu sein, auch wenn man einen Körper mit physischen Mängeln und Beeinträchtigungen hat.
Das Kleid mit den Hasen, in dem ich festgenommen wurde, war das erste in diesem Stil. Ich zog es im Dezember 2017 an, fuhr damit zur Neujahrsfeier und empfand mich als Prinzessin des Abends.
Nach dem August hat sich für mich vieles verändert. Als ich aus der Polizeistation entlassen wurde, trat ich vor die Tür und empfand mich kurze Zeit als Star. Einer photographierte mich, ein anderer umarmte mich, ein Unbekannter gab mir ein Glas warmen Kaffee, manche Leute riefen, ich sei großartig, und dass sie von mir begeistert seien.
Man brachte mich mit dem Auto nach Hause. In allen sozialen Netzen bekam ich wochenlang Mitteilungen, man fragte mich, ob ich Hilfe bräuchte. Das war herzlich und lieb, ich hatte so viel Aufmerksamkeit nicht erwartet. Mir schien es, ich sei nur eine von vielen, und meine Geschichte sei vor dem allgemeinen Hintergrund nichts Besonderes. Und während ich früher die Belarusen nicht für empathisch gehalten hatte, sondern eher für gleichgültig und passiv, so habe ich während der Proteste gesehen, dass wir viele Gleichgesinnte sind.
Nach der Festnahme bekam ich mehr Follower bei Twitter und Instagram, und ich nahm das als Möglichkeit wahr, auf verschiedene Probleme hinzuweisen. Ich bemühe mich, unangenehme Themen anzusprechen, solche wie die Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen, mit anderem Aussehen, Frauenrechte, Diskriminierung.
Zum Beispiel berichtet man bei uns selten positiv über die Geschichte von Menschen mit Behinderungen, eben nicht in dem Sinne, dass der Mensch ein Held ist, dass er tüchtig ist, sondern so, dass er sein Leben lebt. Das ist ein schweres Leben mit vielen Einschränkungen und Unannehmlichkeiten; vieles davon ließe sich jedoch verbessern, wenn die Gesellschaft mal darüber nachdenken würde. Ich möchte gerne, dass dieser Diskurs weiter geht.
Ich kann das Wort „Toleranz“ nicht leiden, ebenso wenig wie das Narrativ: Wir müssen Menschen gegenüber tolerant sein, die anders sind als wir. Das impliziert, dass wir Menschen ertragen müssen, die sich von uns unterscheiden. Ich bin sicher, dass man das Toleranz-Narrativ ersetzen muss durch ein Narrativ der Akzeptanz. Man muss Menschen mit ihren Unterschieden nicht ertragen, sondern akzeptieren, denn wir werden immer verschieden sein, gesund und behindert, unterschiedlichen Ethnien und sozialen Schichten angehören und verschiedene Stellungen bekleiden. Es liegt an uns, uns für eine Annäherung und einen gemeinsamen Weg zu einer Gesellschaft entscheiden, in der es allen gut geht, oder ob wir weiterhin in Richtung einer Spaltung arbeiten, einer Einteilung in Richtige und Falsche, Gute und Diffamierte.
Man sagt mir, ich sei eine Idealistin, ich hätte unrealistische Ideale von einer Gesellschaft, in der es allen gut geht. Ich bestreite das nicht, aber ich finde das nicht schlecht. Welchen Sinn hätte es denn sonst, von Fortschritt zu sprechen, wenn wir kein Wachstum, keine Verbesserung anstreben. Wenn man z. B. von Gewalt spricht, kommen „große Denker“ und sagen:“ Leben ist Schmerz, es wird immer Verbrecher geben und Menschen, die leiden“. Na gut, dann wollen wir alle Gesetze abschaffen, in die Steinzeit zurückkehren und mit Knüppeln aufeinander einschlagen, wer mehr davon hat, der hat recht. Ist das die Gesellschaft, die Sie rechtfertigen und mit ihrer Untätigkeit unterstützen? Deshalb ja, ich bin eine Kämpferin (lächelt) für Ideale.
Dieses Narrativ ‚Wir müssen tolerant gegenüber Menschen sein, die anders aussehen‘ mag ich überhaupt nicht
Wir haben sehr viele Probleme. Ich möchte glauben, dass ich hier einen Moment erleben werde, in dem wir uns von der Betonplatte der Unterdrückung der Gesellschaft durch das Regime befreien. Und frei atmen können, anfangen zu leben und zu versuchen, Ideen umzusetzen, die für eine verbesserte Lebensqualität sorgen, die einer größeren Anzahl von Menschen die Chance auf Glück geben, die abgesehen von der politischen Unterdrückung noch unter allen möglichen Vorurteile und Einschränkungen zu leiden haben.
Mir scheint, nach dem, was passiert ist, müssten die freien Belarusen die leidenschaftlichsten Kämpfer für Gleichberechtigung und die Befreiung von jeglicher Diskriminierung werden. Heute spiegelt die Protestbewegung die Position der Mehrheit wider, aber aufgrund der Unterdrückung durch die Machthaber und der ständigen Verfolgungen ist sie zu einer offenkundig marginalisierten Gruppe geworden, die auf allen Ebenen und auf vielfältige Weise diskriminiert wird. Wenn ein Mensch auch nur ein Minimum an Empathie hat, die Fähigkeit, eine fremde Erfahrung nachzufühlen, dann wird er sich durch solche Erfahrungen vorstellen können, wie es denen ergeht, die Diskriminierung erfahren. Weil er am eigenen Leib empfunden hat, wie es ist, wenn man recht hat, aber einen Schlag in die Nieren bekommt, einfach weil ein anderer Mensch einen Knüppel hat. Und wie das ist – in der Position eines machtlosen Opfers im Land zu sein, dem der Sinn „nicht nach Gesetzen“ steht.
Bis zum August 2020 lebten wir alle in einer gebrochenen Welt, für viele Gruppen unserer Gesellschaft war sie das immer: für Frauen, Invaliden, Rentner, wenig Begüterte. Bei den vielfältigen Demonstrationen haben wir gesehen, wie viele von uns aus diesen verschiedenen Gruppen kommen, und wir uns alle sonntags zu einer Gruppe zusammenschlossen: in einem Polizeiwagen konnten ein IT-Spezialist, ein Hausmeister, ein Jugendlicher, ein Student, zwei Rentner, drei Ökonomen und ein paar Fabrikarbeiter sitzen. Wir haben alle einander gesehen, wie es in einem bekannten Lied heißt. Und ich hoffe sehr, dass wir es schaffen werden, die Flügel der Freiheit auszubreiten und das neue Land Belarus aufzubauen, von dem wir jetzt träumen.
Ich werde manchmal gefragt, was passieren müsste, damit das Volk siegt. Ich habe da keine fertigen Antworten, ich bin kein Experte. Was jetzt passiert, bedeutet nicht, dass das jetzt alles ist und wir auseinandergehen, dass wir nichts erreicht haben. Es ist so viel geschehen, woran noch vor einigen Jahren nicht zu denken war.
Ob ich manchmal Angst habe? Natürlich! An dem Tag, an dem ich festgenommen wurde, habe ich zwei junge Frauen kennengelernt, die weggegangen waren, bevor die Festnahmen begannen. Danach schämten sie sich und fühlten sich schuldig, weil andere festgenommen wurden und sie selbst nicht. Das ist toxisch und ungut. Ich möchte, dass die Menschen dagegen ankämpfen, dass sie sich nicht zerstören lassen, weil von so einem Gefühl niemand einen Gewinn hat. Das Empfinden von Scham und Schuld ist kein Impuls, etwas zum Besseren zu ändern, man quält sich nur selbst, es ist zermürbend und raubt einem nur Kräfte und Motivation.
Ich hatte mit Menschen Kontakt, die sich Vorwürfe machten, dass sie zu Hause geblieben waren, weil sie Angst hatten, auf die Straße zu gehen. Mir ist es selbst so gegangen. Dabei ist das doch normal, um seine Gesundheit, um seine Nächsten, um seine Freiheit und sein Leben zu fürchten. Man muss nicht versuchen, die Angst zu unterdrücken oder sich Vorwürfe zu machen, besser ist es, sich selbst gegenüber offen darüber zu sein, sich dieses Zustands bewusst zu werden, ihn anzunehmen.
Offenbar ist es sinnlos, sich über sie zu ärgern, weil das nichts ändert, sie scheren sich nicht darum, und dann fängt man an, auf jene böse zu sein, die ausgereist sind, die zu Hause sitzen, die Angst haben
Jeder Mensch hat seine Kraftquelle, und man kann nicht abschätzen, wie viel davon jeder noch hat und was er aushalten kann, um weiter zu kämpfen. Und wenn man danach Panikattacken und Depressionen bekommt und man nicht mehr normal arbeiten kann, dann steht das nicht dafür.
Ich habe mich selbst viel über Menschen geärgert, die nicht deshalb ausgereist sind, weil man sie verhaften wollte oder weil sie gesucht werden, sondern weil es ihnen zu unbequem ist, unter solchen Bedingungen zu leben. Und dann versteht man, dass man eine Übertragung vornimmt – dass man die Emotionen von dem eigentlichen auslösenden Moment auf sie überträgt. Man muss auf das Regime böse sein, auf die Regierung, die Menschen, die die Befehle erteilen, die die Bande in Masken befehligen, auf die, die die verbrecherischen Befehle ausführen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat man den Eindruck, dass es sinnlos ist, auf sie wütend zu sein, weil das keinen Einfluss auf sie hat, sie pfeifen darauf, und dann ärgert man sich über die, die ausgereist sind, die zu Hause geblieben sind, die Angst haben.
Es führt zu nichts, es Menschen übel zu nehmen, dass sie nicht sterben wollen, dass sie davor Angst haben, dass man ihnen ins Bein oder in den Kopf schießt oder sie für mehrere Jahre einsperrt. Davor Angst zu haben ist natürlich. Im Wunsch, Repressionen und Terror zu entgehen liegt nichts Verwerfliches. Ich versuche jetzt, die Situation von verschiedenen Seiten aus zu betrachten.
Man darf sich nicht selbst bis dahin bringen, dass man einfach ausbrennt und endgültig zusammenbricht – dann kann man ja nichts mehr tun. Ich kenne das, als Mensch, der Ende 2020 in dieser Verfassung war Ich konnte nichts tun, ich lag einfach da und hasste mich selbst, weil dort Menschen gejagt, geschlagen und eingesperrt werden. Und ich machte psychisch einen sehr schweren Winter durch, ich würde niemandem wünschen, in so einen Abgrund zu fallen. Jetzt versuche ich, etwas Positives darin zu finden. Zum Beispiel, wenn jemand ausgereist ist, aber hilft, Geld überweist, Petitionen und Briefe an verschiedene Organisationen schreibt und über die Situation in Belarus informiert, eben das zu tun versucht, was ihm seine Ressourcen ermöglichen.
Aber es fällt mir immer noch schwer, Partei für jene zu ergreifen, die von der Situation abstrahieren und gar nichts tun. Hier kann ich gestehen, dass ich das ablehne, von der Position eines Menschen aus, der sich selbst viele Jahre so verhalten hat. Ich war sehr apolitisch und bin erst ein paar Monate vor den Wahlen aufgewacht. Ich verstehe, wie angenehm, komfortabel und bequem es ist, in seiner Blase zu leben und nicht herauszukommen. Aber dann, wenn man herauskommt und sich seiner Verantwortung für diese schweigende Teilhabe bewusst wird, dann gibt es schon keinen Weg zurück mehr. Aber leider ist es vielen Menschen einfach nicht gegeben, über den Tellerrand dieser Blase hinauszuschauen. Mit denen, die keine anderen Informationsquellen hatten als einige staatlichen Kanäle und verlogener Propaganda, muss man ernsthaft arbeiten, um sie zu informieren. Und unser Bildungssystem hält es nicht für nötig, kritisches Denken bei den Menschen zu fördern.
Seit dem August 2020 habe ich viel erlebt. Mein Briefwechsel mit einem Psychotherapeuten erinnert mich an das bekannte Bild mit der Sinuskurve: – „Wir haben gesiegt, wir werden erschossen, wir haben gesiegt, wir…“ Mir scheint, dass alle Menschen, die in der Sowjetunion und der postsowjetischen Zeit geboren sind, eine Therapie benötigen, zumindest prophylaktisch, und jetzt besonders.
Die Ängste und Panikattacken traten bei mir nicht nach der Festnahme auf, sondern Ende des Jahres. Im November erkrankte ich an Covid., lag zu Hause, die Rekonvaleszenz dauerte lange. Und Ende Dezember kam die Vorladung zur Staatsanwaltschaft, man lud mich vor zu einem prophylaktischen Gespräch. Ich erhielt eine offizielle Verwarnung, dass ich im September in den sozialen Netzen einen Aufruf zu nicht genehmigten Massenkundgebungen gepostet hatte. Und dergleichen wird bereits strafrechtlich verfolgt.
Und während ich in der ersten Zeit des Jahres Alpträume hatte, wie ich nachts an dunklen Häusern entlang vor der OMON davon laufe, so änderte sich der Traum 2021 – ein Mensch in Polizeiuniform kommt zu mir nach Hause, sieht mir mit freundlichem Blick zu, wie ich meine Tasche packe, und bringt mich dann ins Gefängnis. Vor meiner Festnahme wohnte ich allein, danach zog ich zu meiner Mutter. Das Wichtigste, was mich zu dieser Entscheidung bewog, sind meine beiden Katzen. Als ich festgenommen wurde, hat mich sehr beunruhigt, was aus ihnen wird. Wir wissen nicht, wie sich alles entwickelt, wo ich mal sein werde. Und ich möchte sicher sein, dass für meine Katzen gesorgt wird. Außerdem gab es da natürlich noch die Frage wegen der Wohnung, was daraus wird und mit all den Sachen, wenn mir was passiert.
Jetzt ist es schwierig, irgendwelche Erwartungen zu hegen, wie die Erfahrung zeigt – das ist der sichere Weg zu einer Enttäuschung
Wie wird es weitergehen? Ich weiß es nicht. Als Demonstrationen von Menschen mit Behinderungen stattfanden, auf der Welle des erwachten belorusischen Selbstbewusstseins, der Gemeinschaft und Solidarität im Volk, zeigte sich ein großes Potential für Änderungen zum Besseren, aber jetzt ist das schwer zu verwirklichen wegen der allgemeinen Krise und des Terrors im Land. Wenn sich die Situation ändert und sich ein Freiraum für progressive Initiativen ergibt, dann würde ich mich in ihnen wiederfinden. Aber jetzt, wo jeden Moment Uniformierte kommen und alle nacheinander festnehmen, von welcher Initiative kann da die Rede sein? Die Frage ist, wohin und wie sich alles entwickeln wird, ob es noch schlimmer wird. Und ob wir irgendwelche positiven Veränderungen in diesem Land, in dieser Gesellschaft erleben werden, weiß ich nicht.
Jetzt macht es Angst, irgendwelche Erwartungen zu hegen - wie die Erfahrung zeigt, ist das ein sicherer Weg, Enttäuschungen zu erleben. Beispielsweise hegte ich vor dem August 2020 überhaupt keine Hoffnungen. Es gab einen einfachen Plan: Wir gehen zu den Wahlen, dann protestieren wir, und dann wird alles zum Erliegen kommen und wir werden weiter in der berechtigten Enttäuschung oder mit dem Gefühl leben, unsere Pflicht zum „Umsturz“ erfüllt zu haben. Ich hatte mir auch keine Vorstellungen davon gemacht, was sich danach abspielen könnte.
Dann hoffte ich sehr, dass die Situation sich bis zum Jahresende auflöst, und als das nicht passierte, hat mich die Enttäuschung ziemlich umgehauen. Jetzt gebe ich mir Mühe, keine Visionen zu entwerfen. Ich versuche einfach, mich moralisch auf verschiedene Szenarien einzustellen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass das belarusische Volk gerade dann für Überraschungen sorgt, wenn man keine heroischen Aktionen von ihm erwartet.
Meine Mutter macht sich große Sorgen um mich. Sie zieht Erkundigungen ein, damit ich Arbeit im Ausland suchen könnte, hat ein Visum vorbereitet, hat Pläne gefasst, Belarus zu verlassen, nicht weil der Protest nachgelassen hat und man aufgeben muss, sondern aus Sicherheitsgründen. Mir fiel ein leichtes Los zu, nein, nicht das Gefühl, ausgeliefert zu sein oder des Fatalismus oder der Empfindung, aufgegeben zu haben, sondern einer gewissen Akzeptanz. Ich habe bewusst getan, was ich getan habe und werde das auch weiterhin tun, solange ich dazu in der Lage bin. Ich bleibe hier. Wenn Gefahr im Verzug ist und es die Möglichkeit gibt, ihr physisch zu entfliehen, dann werde ich das wahrscheinlich versuchen. Wenn das nicht geht, dann ist es eben mein Schicksal.
Wenn der Protest erstickt wird, denke ich nicht, dass der Kampf damit endet, aber er wird sich eindeutig sehr viel länger hinziehen. Dann, wenn das alles aufhört, nach einem Jahr oder nach fünf Jahren, dann wird der Durchbruch zum Fortschritt, zum Wachstum wegen der allgemeinen Erschöpfung wesentlich schwächer ausfallen. In dieser Zeit werden noch sehr viele ausreisen, inhaftiert werden, Enttäuschungen durchmachen, und nach einigen Jahren wird Belarus völlig anders sein. Wenn es sich jetzt nicht ändert, wird sehr viel Potential verloren gehen, und das ist schmerzlich. Deshalb möchte ich doch auf ein besseres Szenarium hoffen. Und darauf, dass die Menschen ihren Weg zur Entwicklung finden – in Richtung von Empathie, Solidarität und weiterer Zusammenarbeit, damit es nicht dazu kommt, dass wir alle siegen und dann wieder auseinandergehen. Man möchte gerne glauben, dass alles nicht umsonst ist.
P.S. Sascha hat keinen Antrag ans Ermittlungskomitee gestellt.
Festnahme bei einer Frauendemonstration in Minsk