Juri hat zwei Jahre lang im Ministerium für Notsituationen der Republik Belarus gearbeitet. Seine Aufgaben konnte man mit den Worten "Retten, Löschen, Bergen, Schützen" beschreiben. An seinem freien Tag ist Juri auf die Straße gegangen, um mit eigenen Augen das politische Geschehen zu folgen. Am Ende wurde er verhaftet und ins Polizeirevier gebracht, wo seine eigenen Sachen abgenommen wurden, sogar sein Schnürsenkel. Dazu musste Juri mit den Beinen auseinander gespreizt und den Kopf gegen die Wand gedrückt in einem T-Shirt und einer Hose herumstehen. Nachher wurde er ins Schodsina-Gefängnis gebracht. Außerdem wurde Juri nach allen aus diesem Grund noch von der Arbeit gefeuert.
Er wurde auf eine Straße verhaftet und hat vier Tage lang im Polizeirevier und in der Untersuchungshaftanstalt verbracht
– Am 9. August hatte ich eine 24-Stunden-Schicht auf der Feuerwache. Als das Internet abgeschaltet wurde und ich genauso wie meine Kollegen keinen Internetzugang hatten, haben wir das aktuelle Geschehen besprochen. Die Ehefrau von meinem Kollegen war im Zentrum von Minsk und erzählte, was sie gesehen hat. Ich wollte gar nicht glauben, dass so etwas in Belarus passieren konnte.
Zu Hause habe ich begriffen, dass das die neue Realität ist. Meine ganze Welt ist in sich zusammen gefallen. Am 10. August hatte ich frei und habe entschieden, im Stadtzentrum zu bummeln. Ich bin mit zwei Freunden von der Seite "Nemiga" Einkaufszentrum gelaufen, wo schon OMON-Kräfte gestanden haben. Wir haben sie gefragt, ob es möglich wäre, durchzugehen. Als Antwort darauf, haben wir ein "Hau ab" bekommen.
– Wir sind in die Höfe eingebogen. Da waren schon OMON-Kräfte. In der anderen Richtung waren noch mehr OMON-Einsätze, drei Gefangenentransporter und ein Feuerwehrfahrzeug. Die Typen in Masken und mit Helmen kamen auf uns zu, ohne sich vorzustellen und nahmen uns fest.
— Warum nehmt ihr uns fest?
— Mein Chef will mit euch reden.
— Dieser Polizeichef hat unsere Handys genommen. Wir wurden in einen Gefangenentransporter geworfen, in dem es so eng war, dass acht Insassen auf einander saßen. Wir wurden ins Polizeirevier "Perwomajskaja" gebracht. Die Häftlinge, einschließlich Schüler und Schülerinnen, im Alter von 16 bis 17 Jahre, standen draußen an der Wand bis um 2 Uhr nachts. Alle fragten, ob es möglich wäre, Verwandte anzurufen, um sie zu beruhigen und den Arbeitgebern Bescheid zu sagen. Aber niemand durfte es tun. Die OMON-Kräfte haben unsere Sachen und Schnürsenkel weggenommen. Außerdem uns wurde nicht erlaubt, unsere Anoraks aus Rucksäcken zu nehmen. Wir mussten mit den Beinen auseinander und mit dem gegen die Wand gedrückten Kopf, nur in einem T-Shirt und einer Hose stehen.
Um 4 Uhr morgens kamen Menschen in schwarzer Kleidung und haben die Mitarbeiter vom Polizeirevier gefragt, ob wir auf Knien mit dem Kopf nach unten stehen konnten. Die Antwort war "Kein Problem". Diejenigen, die dieser widersprochen haben, wurden zu dritt oder zu viert angegriffen und mit Schlagstöcken zusammengeschlagen.
— Am Anfang hatte ich ein komisches Gefühl, dass ich in einer anderen Welt bin. Es war sofort klar, dass ich gefeuert werden würde. Ich befürchtete dies nicht, sondern, dass es noch viel schlimmer sein könnte. Dann hat ein Staatsermittler ein Protokoll erstellt. Währenddessen war wahrscheinlich ein Polizeichef im Umkleideraum. Das erste, was ich von ihm gehört habe, war "Ihr Wichser müsst einfach totgeschlagen werden!"
Ich habe gefragt, warum er so blöd über die Menschen redet.
— Wegen euch Arschlöchern wurden zehn unserer Mitarbeiter benachteiligt.
— Sie sind aber auch ein Mensch, genauso wie wir alle. Warum reden Sie so über die Menschen, die ihre Stimme schützen wollen?
Er schlug mir mehrmals auf den Kopf und warf mich aufs Sofa:
— Zuckst du noch mal, wird es noch schlimmer.
— Während der Erstellung vom Protokoll habe ich gefragt, ob ich meinen Leiter der Feuerwehr anrufen darf um Bescheid zu sagen. Dies wurde mir aber nicht erlaubt. Im Protokoll steht es, dass ich an einer ungenehmigten Demo teilgenommen, Demosprüche gerufen und mit beiden Händen gewunken habe. Dem stimme ich gar nicht zu.
— Ich und noch zehn oder fünfzehn Menschen saßen im Affenhaus (so nennt man die Gefängniszellen). Es war sehr heiß und wir haben keine Luft bekommen. Einige konnten auf der Bank sitzen, andere auf dem Boden. Zum Glück hatten wir einen guten Gefängniswärter, der die Tür aufgehalten hat um Luft reinzulassen und freien Toilettengang gesichert hat. Im Affenhaus habe ich endlich verstanden, dass ich in keiner anderen Welt bin, sondern in der realen, in meiner Welt.
Nachher wurden wir zu viert in die zweisitzige Zelle im Gefangenentransporter geworfen. Die Zellen im Gefangenentransporter waren gerammelt voll und die verhafteten Menschen wurden auf den Boden gesetzt. Da drin war es so heiß, dass sogar der Lack von den Wänden abblätterte. Wir kamen in das Schodsina-Gefängnis (Schodsina ist eine Stadt etwa 55 km östlich der Hauptstadt Minsk). Während unseres langen Wartens haben vierzig andere Menschen im Gefangenentransporter gerufen, dass sie keuchten.
— Dem Mann neben mir war so schlecht, dass er kaum atmen konnte und seine Arme und Beine waren gelähmt. Vermutlich hatte er einen Mini-Schlaganfall. Wir haben lange geklopft und gebeten, einen Krankenwagen zu rufen. Endlich mal öffneten die Gefängniswärter die Tür und sagten: "Ihr habt ihn hergebracht, ihr holt ihn raus."
Wir trugen diesen Mann heraus. Ich stand auf und hielt ihn in meinen Armen. Dann haben ihn die Gefängniswärter mitgenommen. Leider weiß ich nicht, wie es ihm aktuell geht.
Dies ist kein Euromaidan mit gewaltsamen Kämpfen. Wehrlose Menschen werden mit Schlagstöcken geschlagen und verkrüppelt
In Schodsina-Gefängnis wurden wir nicht von der Polizei, sondern von den Gefängniswärtern begleitet. Nach dem Duschraum wurden wir in die Untersuchungshaftanstalt gebracht, wo wir in drei Reihen komplett ausgezogen aufgestellt wurden. Man hat uns untersucht und in Gefängniszellen gebracht. Wir waren vierundzwanzig in einer acht-Bett Gefängniszelle. Bettwäsche, Decken und Handtücher wurden nicht herausgegeben. Wir waren zu dritt oder zu viert auf den Betten, auf den Boden, auf dem Tisch oder unter dem Tisch. Zum Abendbrot hatten wir verdünnte Haferflocken und Tee. Es gab einen Tag, an dem wir nur Leitungswasser tranken und einen anderen Tag, an dem wir nur Brot aßen. In der Gefängniszelle gab es so viele verschiedene Bevölkerungsgruppen: Bauarbeiter, Tätowierer, Produktionsleiter, Aktivisten und diejenigen, die einfach auf der Straße waren, von 19 bis 45 Jahre alt. Einige wurden fast tot geprügelt… Ein 22-jähriger Kerl hatte Hämatome im Gesicht, zwei ausgeschlagene Schneidezähne und einen komplett blauen Hintern. Niemand leistete medizinische Hilfe.
— So habe ich drei Tage lang verbracht. Ich war beim Richter. Er hat sich nicht vorgestellt, aber gesagt: "Na gut, wir lassen ihn frei".
Im Abstellraum wurden alle Sachen von den Häftlingen überall verstreut. Die Mitarbeiter haben diese gestapelt: Handys auf einen Haufen, Schlüssel auf den zweiten. Wer Geld hatte, konnte es nicht finden.
— Nach der Befreiung vom Gefängnis wurden alle von den Freiwilligen in Empfang genommen und nach Minsk gebracht. Ich habe sofort meinen Leiter von der Feuerwehr angerufen und gefragt, wann ich auf Arbeit gehen soll. Der Stellvertreter für ideologische Arbeit wandte sich an mich: "So, willst du dich lieber wegen Strafverfahren oder aus eigenem Antrieb kündigen?" Er hat mir die Unterlagen gezeigt, in denen schon alles gedruckt und für mich unterschrieben war. Ich schrieb ihm: "aus eigenem Antrieb".
Der Leiter der Feuerwehr hat unterschrieben und sich erkundigt:
— Warum bist du zu den Protesten gegangen?
— Weil ich mit der Situation nicht einverstanden bin.
— Was möchtest du ändern?
— Ich will nicht, dass unbewaffnete Menschen, die in die Hände klatschen oder mit weiß-rot-weiß Flaggen gehen, geschlagen und verstümmelt werden. Das ist nicht normal. Dies ist kein Euromaidan mit gewaltsamen Kämpfen. Wehrlose Menschen werden mit Schlagstöcken geschlagen und verkrüppelt. Ich will, dass meine Stimme zählt. Heutzutage muss man kein Sklave in Handschellen sein.
Als Antwort habe ich bekommen, dass normale Menschen zu Hause bleiben und arbeiten würden. Mein Leiter hat noch hinzugefügt, wenn ich ihn vom Gefängnis aus angerufen hätte, würde er mich rausholen und nach Gehirnwäsche ließe mich weiterarbeiten. Mein Antwort war "Nein, Danke. Ich kündige lieber selbst".
— Ich weiß, dass meine Kollegen mit mir solidarisch sind. Einige haben aber einen befristeten Arbeitsvertrag und wer diesen Vertrag bricht, begeht eine Vertragsverletzung, d.h. man ist verpflichtet riesige Strafzahlung zu erbringen. Nicht alle sind in der Lage, eine solche Strafe zu bezahlen, da sie Hypotheken, Familie und Kinder haben.
Ich bereue nichts. Ich bin zurzeit auf Arbeitssuche und besuche 3D-Modellierung und Game-Design Kurse. Ich finde dieses Berufsfeld richtig super.
P.S. Juri erstattete keine Strafanzeige gegen die Polizei. Er ist davon fest überzeugt, dass ein Ermittlungsverfahren nicht eingeleitet werden würde.
Er wurde auf eine Straße verhaftet und hat vier Tage lang im Polizeirevier und in der Untersuchungshaftanstalt verbracht