"Diese Wunde am Körper von Belarus wird nicht so schnell heilen"
Mit einer roten Markierung markiert trifft besonders hart
Mit einer roten Markierung markiert trifft besonders hart
Alexander und sein Kollege wurden am zweiten Tag der Proteste in der Nähe von Nemiga festgenommen. Er wurde zusammengeschlagen, in einen Gefangenentransporter geworfen und in die Haftanstalt nach Okrestina gebracht. Zwei Tage lang durchlebte der Mann an sich selbst, was der sog. OMON-Korridor bedeutet (ein von OMON-Kräften gebildeter „Korridor“, den die Gefangenen mit Gesicht zu Boden und Händen auf dem Rücken unter den Schlägen der Schlagstöcke von beiden Seiten durchlaufen müssen), lernte in einem mit Menschen vollgestopften Transporter zu atmen und verstand, unter welchen Bedingungen man Gleichgültigkeit zu jeglichen Schmerzen verspürt. Alexander sieht sich immer noch um, sieht scheinbare Polizeifahrzeuge und hat Albträume von der OMON Bereitschaftspolizei. Bald wird er und seine Familie das Land verlassen.
In einem Gefangenentransporter geschlagen, zwei Tage ungesetzmäßig eingesperrt
Alexander ging zusammen mit seinen Kumpels am 9. August zur ersten Protestaktion. Er gibt zu, dass sie vor Granaten wegliefen, aber das hielt sie nicht auf. Sie verstanden, dass nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses am 10. August noch mehr Menschen auf die Straße gehen würden. Mit derselben Clique versammelten sie sich am Abend des nächsten Tages in der Nähe des Einkaufszentrums "Gallerija" auf Nemiga.
- Die Jungs und ich haben nicht verstanden, wie es dazu kam, dass die OMON Bereitschaftspolizei von beiden Seiten auf uns zukam. Es gab keinen Ausweg – der Prospekt Pobediteley war mit Gefangenentransportern blockiert. Es wurde klar: Sie hatten den Befehl, uns alle mitzunehmen. Mein Freund und ich wurden heftig auf die Knie geworfen, mit einem Schlagstock geschlagen und in den ersten Gefangenentransporter geworfen. Bei einem jungen Mann, der nach uns reingeworfen wurde, wurde ein Knaller im Rucksack gefunden. Er wurde direkt von allen und mit allem im Transporter geschlagen – mit Händen, Füßen und Schlagstöcken.
Als sich fünf Personen im Auto angesammelt haben, wurden sie irgendwohin weg gebracht. Die ganze Zeit mussten die Gefangenen mit gesenktem Kopf auf den Knien stehen, die Hände hinter dem Rücken oder hinter dem Kopf. Niemand durfte sich setzen: Wenn die OMON sah, dass Sie sich setzten, fingen sie an, mit Knüppeln an die Tür zu hämmern und daran zu erinnern, dass "das kein Restaurant für Euch ist".
- Ich hatte das Gefühl, dass ich, nachdem ich die Schwelle des ersten Transporters überflogen hatte, direkt vom 2020 ins Jahr 1937 gelangte. Gruselig. Wir haben sogar gescherzt: Wenn die Transporter an das Uber-System angeschlossen wären, würde niemand den Fahrern ein Stern geben. Tatsächlich kann man eine solche Situation nur mit Humor aushalten. Bei jeder Unebenheit schlugen wir mit dem Kopf gegen die Decke und mit den Knien auf den Boden. Ein halbtot geschlagener Mann hielt sich an denen fest, die noch aufrecht waren. Ich hatte Glück: Meine Fertigkeit als Fitnesstrainer half mir, das Gleichgewicht zu halten.
Der Transporter hielt im Bereich des Sportpalastes. Alle Gefangenen wurden rausgeworfen, in eine Reihe gestellt und prüfend angeschaut. Die OMON-Kräfte zerrissen Alexanders T-Shirt mit dem Wappen der Belarusischen Volksrepublik und warfen sein Handy mit dem gleichen Schwung weit ins Gebüsch. Dann gingen wir entlang einer OMON-Kette zum zweiten Transporter.
Ich hatte das Gefühl, dass ich, nachdem ich die Schwelle des ersten Transporters überflogen hatte, direkt vom 2020 ins Jahr 1937 gelangte
- Jeder OMON-Polizist hält es anscheinend für seine Pflicht und Ehre, dich zu schlagen. Während ich zum zweiten Transporter lief, bekam ich zweimal Schläge auf den Kopf. Ich habe immer noch einen leichten Sensibilitätsverlust im Oberkiefer. Dann beschloss ich, zu schweigen. Über nichts und mit niemandem zu reden, alle Worte werden eh gegen dich verwendet. Im zweiten Transporter war schon alles wie vernebelt. Da hat uns keiner geschlagen, vielmehr hatten sie die Aufgabe, uns so stark wie möglich zu demütigen, den kleinsten Widerstandswillen zu unterdrücken und uns zu desorientieren. Sie haben es geschafft.
Dann - wieder eine OMON-Kette und ein dritter Gefangenenbus. Diesmal ist es ein echter Transporter. Vier Personen wurden in eine Zelle von 1,5 m² untergebracht. Alexander, sein Kumpel, ein erschöpfter, geschlagener magerer Mann und ein älterer Mann, der neugierig auf die Straße ging, um zu schauen, was dort passierte.
- Wir saßen im dritten Gefangentransporter und hörten bei den Gesprächen über die Funkgeräte mit. Die „Silowiki“ warteten, bis unser Transporter komplett vollgestopft wurde. Die Hitze war höllisch. Es gab nichts zu atmen. Wir waren schweißgebadet. Und in dieser Atmosphäre für ungefähr vierzig Minuten. Sie brachten einen weiteren Mann, er konnte selbst nicht mehr laufen. Der OMON-Ältester zeigte sogar einen Funken Menschlichkeit und sagte, dass er hier keine Leiche brauche und schickte seine Untergebenen, einen Krankenwagen zu rufen.
Als das Auto ansprang, spürte ich am Abend zum ersten Mal, wie schön das Leben war – die Klimaanlage in der Zelle wurde eingeschaltet und wir atmeten frische Luft.
Die Gefangenen wurden nach Okrestina gebracht. Beim Verlassen des Transporters versuchten sie, jeden von uns so zu treten, dass sie im Idealfall fallen würden. Schon bei der Aufnahme wurden alle in die Knie gezwungen und schikanös hin und her gezwungen, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. Als die Gefangenen ihr persönliches Hab und Gut abgaben - Uhren, Ringe, Gürtel, Schnürsenkel, wurden sie in das sogenannte "Glas" geworfen. Dies ist eine Open-Air-Zelle von 20 m² mit einem Gitter als Dach. Einfach gesagt - ein Laufhof. 80 Leute wurden hierher reingepresst.
- Ich war noch nie in meinem Leben auf so kleinem Raum mit so vielen gebildeten, hochintelligenten Menschen zusammen. Unter uns waren Chemiker, Biologen, Journalisten, Politologen, Historiker, Linguisten. Sogar ein Abgeordneter war dabei, der aus einer ferneren Region kam und sehen wollte, was in Minsk vor sich ging, um das dann seinen Wählern zu erzählen. Niemand hat seine parlamentarische Immunität berücksichtigt, als er festgenommen wurde.
Da hat uns keiner geschlagen, vielmehr hatten sie die Aufgabe, uns so stark wie möglich zu demütigen, den kleinsten Widerstandswillen zu unterdrücken und uns zu desorientieren. Sie haben es geschafft
Im "Glas" war kein Platz zum Sitzen. Und so kam es, dass sich die Gefangenen, die Seite an Seite standen, sich schnell selbst organisierten. Sie beschlossen, bis zu letzter Kraft zu stehen, so gut sie konnten. Wenn eine Person nicht mehr stehen konnte, wurde sie platzsparend an eine Mauer gelehnt. Die Gefangenen hatten Glück, dass sie nicht auf die Toilette mussten – die Flüssigkeit dünstete durch Schweiß aus dem Körper aus. Aber nach drei Stunden wurden wir durstig. Mitten in der Nacht wurde Wasser gebracht, als die Transporter nicht mehr en masse zur Hafteinrichtung fuhren und die letzten Festnahmen endeten.
- Ich bin in die erste Verhaftungswelle geraten. Wie ich später verstand, hatte ich noch Glück. Ich habe genau das bekommen, was ich hätte bekommen sollen. Die Leute jedoch, die später ankamen, beneide ich nicht. Unserer "Glas" erreichten solche heftigen Schreie, als wären wir in einer Art Hölle.
Gegen Morgen wurde Alexander zusammen mit anderen Gefangenen rausgeführt und an einen Hofzaun platziert; es wurde mit einer Datenaufnahme begonnen - Namen, Adressen und Arbeitsorte. Dieser Vorgang war eine gute Abwechslung. Alles war ruhig.
Übrigens behandelten manche Mitarbeiter der Haftanstalt die Gefangenen sehr menschlich. Sie schlugen nicht, brachten regelmäßig Wasser und warfen einmal heimlich einen Laib Brot in das "Glas". Die Gefangenen teilten es in 80 gleiche Stücke.
Wir scherzten, dass es sich vielleicht lohnt, Spielsteine für das Spiel Dame aus dem Brot zu formen, da wir nicht wussten, wie lange sie uns hier festhalten. Die einzige Unterstützung war unser Humor und das Gefühl, nah beieinander zu sein. Wir diskutierten über die neuesten Kinofilme, waren abgelenkt und dachten kurz nicht darüber nach, was als nächstes passieren würde. Wenn jemand in Panik geriet oder das innere Gleichgewicht verlor, umarmten wir ihn mit den Worten: "Freund, beruhige dich, wir werden hier doch nicht getötet, in einem Rechtsstaat im Zentrum Europas mit fortschrittlicher Demokratie. " Wir haben bewusst versucht, uns so fröhlich zu verhalten, damit kein Mensch hinter der Mauer dachte, dass wir deprimiert oder demoralisiert wären.
Ich war noch nie in meinem Leben auf so kleinem Raum mit so vielen gebildeten, hochintelligenten Menschen zusammen
Alexander erzählte, dass ein Mann im "Glas" plötzlich blau wurde. Er wurde gerade vor einem Tag am Bauch operiert. Er geriet zufällig unter die Festgenommenen, als er vom Krankenhaus nach Hause fuhr. Ein zweiter Mann blutete ununterbrochen aus der Nase. Und der dritte hatte nach einem Stück Brot einen epileptischen Anfall. Sie wurden weggeführt, und niemand hat sie mehr gesehen.
Gelegentlich wurden die Inhaftierten in kleinen Gruppen auf die Toilette geführt. Für sie war es super - man konnte einfach sitzen. Und Wasser gab es dort auch. Das Gefängnispersonal gab den Gefangenen leere Flaschen, damit sie sie mit Wasser auffüllen und in das „Glas“ mitnehmen konnten.
Alexander hörte, wie die Leute aus dem benachbarten "Glas" nach Essen baten und "Freiheit!" skandierten. Sie wurden in Gruppen auf einen Hof geführt und zusammengeschlagen. Es wurde unglaublich laut, als ob jemand mit einem Fleischklopfer durchdrehte. Und Schreie: "Hilfe", "Helft doch", "Mama", "Was macht ihr bloß?"
Am zweiten Abend der Haft wurde das ganze "Glas" von Alexander geleert und auf zwei Zellen aufgeteilt. Die Zelle ist gegenüber dem "Glas" ein Fünf-Sterne-Luxusraum. Obwohl die Zelle für sechs Personen ausgelegt war, wurden dort vierzig Gefangene untergebracht. Immerhin war mehr Platz als im "Glas", und man konnte auf Kojen sitzen, sich waschen, trinken und auf die Toilette gehen.
- In der Zelle fühlten wir uns wie normale Leute. Die einen schliefen ein, die anderen verstanden nicht, was geschah. Wahrscheinlich haben wir fürchterlich gestunken, aber wir haben es nicht gerochen. Wir schliefen mit dem Kopf in der Socke eines Kollegen ein und freuten uns. Von draußen hörte man Schreie, wenn jemand geschlagen wurde, aber man ist schon so moralisch stumpf, als wäre es ein normales Hintergrundgeräusch. Ein Mensch gewöhnt sich sogar an solch schlimme Ereignisse.
Am nächsten Morgen wurden alle Gefangenen aus der Zelle geholt und in eine Reihe gestellt. Ein Offizier in Zivil kam zu ihnen und begann, Namen vorzulesen.
- Dieser Kerl sprach zu uns wie zu seinen Kindern. Er sagt, Leute, die Heimat habe Euch eine neue Chance gegeben, sich zu verbessern und nicht mehr an solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Er wünschte uns Gesundheit und gute Laune. Und schließlich bat er uns, noch ein kleines präventives Gespräch mit der OMON abzuwarten. Ich ging wie nach Golgatha, als ob ich hingerichtet würde. Du weißt nicht, was in der nächsten Minute mit dir passiert.
Dieser Kerl sprach zu uns wie zu seinen Kindern. Er sagt, Leute, die Heimat habe Euch eine neue Chance gegeben, sich zu verbessern und nicht mehr an solchen Veranstaltungen teilzunehmen
Diesmal sprachen die Silowiki höflich mit den Gefangenen. Sie sagten, dass "dieses Soldaten-Spiel unser exklusives Recht ist“. Schließlich bereiteten sie eine kleine körperliche Übung vor und befahlen, in die Hocke zu gehen. Dann ein paar Liegestütze und wieder Kniebeugen. Alexander wurde wieder durch seine gute körperliche Fitness gerettet. Aber im Inneren fragte er sich jede Sekunde: Wann werden sie anfangen zu schlagen?
Doch sie haben uns nicht wieder geschlagen. Ohne Geld, Schnürsenkel, Gürtel und Protokolle schickten sie uns nach Hause. Alexander, ganz zittrig und geschlagen, wurde vom Vater eines Gefangenen nach Hause gebracht.
- Fast alle von uns wurden gebrochen. Nur noch einzelne gehen immer noch auf die Straße. Ich sehe mich immer noch um, sehe scheinbare Polizeifahrzeuge und in meinen Albräumen die OMON. Ich verstehe mit meinem Kopf, dass ich offiziell nicht da war, ich habe keine Papiere unterschrieben, sie hätten alles mit uns machen.
Der Mann gibt zu, dass er sich nach seiner Rückkehr als erstes betrunken hat. Dann tat er drei Tage hintereinander dasselbe. Bekannte Spezialisten halfen mit speziellen Pflastern, seine Prellungen zu heilen. Außerdem bekam Alexander eine kostenlose Untersuchung im LODE Medizinzentrum und seine Eltern berieten ihn regelmäßig. Sie sind Ärzte und teilen voll und ganz die Ansichten seines Sohnes. Jetzt hat er praktisch keine blauen Flecken mehr am Körper. Aber die Psyche schmerzt noch immer. Zuerst dachte Alexander, dass er ohne einen Psychologen auskommen könnte, aber er ist sich dessen nicht mehr sicher, er würde einen Fachfreund um Hilfe bitten.
Es ist für den Verstand unverständlich, dass ein Mensch entführt, gefoltert, auf die Straße geworfen werden kann und sich dafür immer noch schuldig oder dankbar fühlt
Fünf Tage später ging Alexander zusammen mit dem Bekannten, mit dem er vor zwanzig Jahren gedient hatte, nach Okrestina, um Dinge abzuholen. Es stellte sich nämlich heraus, dass sein Bekannter als einfacher Angestellter in derselben Haftanstalt arbeitete, in der der Mann zwei Tage lang festgehalten wurde. Das wurde nach der Festnahme klar.
- Mein Bekannter, der Mitarbeiter in der temporären Haftanstalt Okrestina, gibt zu, dass er Belarus und Belarusen sehr liebt und keinem etwas Böses möchte. Und er kündigt nicht, weil er keinem Faschisten weichen will, der den Gefangenen weder Wasser noch Brot aushändigen würde. Er tut sein Bestes in diesem ganzen System. Er sagt, dass er selbst schockiert ist von dem, was passiert.
Alexander ist sich nach allem Erlebten sicher, dass er in naher Zukunft mit seiner Familie das Land verlassen wird. Er sieht nicht ein, das Diktaturregime weiter zu ertragen und in ständiger Angst und Bedrücktheit zu leben:
- Es ist für den Verstand unverständlich, dass ein Mensch entführt, gefoltert, auf die Straße geworfen werden kann und sich dafür immer noch schuldig oder dankbar fühlt. Ich kann so nicht. Und ich werde hier nicht in Ruhe meinen Sachen nachgehen können, bis sich nichts zum Besseren ändert. Diese Wunde am Körper von Belarus wird nicht so schnell heilen.
P.S. Alexander sieht keinen Sinn darin, den Untersuchungsausschuss zu kontaktieren.
In einem Gefangenentransporter geschlagen, zwei Tage ungesetzmäßig eingesperrt